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          TEXTAUSZÜGE von Rosa Mayreder

 

Askese und Erotik (S.43)

(..) Das Empfinden der Durchschnittsmenschen unterschied sich im Mittelalter trotz des Christentums nicht wesentlich von dem antiken. Viele Sitten dieser Zeit zeigen, daß die heidnische Unbefangenheit in Dingen des Geschlechtes noch immer herrschte. Für die große Mehrzahl blieben die Probleme der hohen Geistigkeit, wie sie die Kirchenväter aufgerollt hatten, ein unbekanntes Land. Selbst die Angehörigen des geistlichen Standes haben Enthaltsamkeit durchaus nicht als unerläßliches Gebot betrachtet, und ihre Lebensführung unterschied sich offen oder geheim nur ausnahmsweise von der weltlichen. Dennoch war die Rangordnung der Menschen so sehr durch das geistliche Lebensideal bestimmt, daß ein Mann der Wissenschaft, ein Gelehrter, ein Philosoph im Zölibat leben mußte. So fand es beispielsweise Heloise vollkommen gerechtfertigt, daß Abalard nicht daran dachte, sie zu heiraten, weil er als gelehrter Mann durch die Ehe alles Ansehen verloren hatte.
   Noch in der ursprünglichen christlichen Ehe zielt keine Forderung nach einem erotischen Erlebnis in höherem Sinne. daß unter der Herrschaft der christlichen Sexualmoral die Umwandlung der Sexualität zur hohen Liebe stattfinden konnte, ist in der Tat ein Ereignis ohnegleichen in der Geschichte der menschlichen Seele. Innerhalb der Verdammnis und Unterdrückung der Sexualität vollzieht sich die außerordentlichste Erhöhung und Veredlung des sexuellen Empfindens. So unverständlich dies auf den ersten Blick sein mag: die Erscheinung einer mit den edlesten geistigen Antrieben organisch verwachsenen Erotik, wie sie mit dem Minnedienst überraschend in die Welt tritt, verdankt unverkennbar einer Verknüpfung religiöser Motive mit sexuellen ihren Ursprung.
   Diese mit religiösen Motiven durchsetzte Erotik, deren schwärmerischer Flug in den Kundgebungen des Minnegesanges erhalten geblieben ist, trägt aber deutlich das Gepräge einer nicht völlig überwundenen Zweiteilung des Seelenlebens. Die unumgängliche Forderung des Minnedienstes, der sich niemals in den ehelichen Beziehungen, sondern immer unter gesellschaftlich voneinander ferngehaltenen Personen abspielt, ist Distanz. Eine solche Wichtigkeit wird dieser Distanz zwischen den Liebenden zugeschrieben, daß nach den Anschauungen des Minnezeitalters Liebe unter Ehegatten überhaupt nicht stattfinden kann. Distanz in der Liebe deutet aber immer auf einen ungelösten und unlösbaren Rest in der seelischen Verschmelzung. Das Bedürfnis nach Distanz ist ein Symptom dafür, daß die Verknüpfung zwischen dem seelischen und dem sexuellen Gebiet im Bewußtsein Schwierigkeiten bereitet, die keine allzu große Nähe gestatten. Der Ritter muß seine Dame aus einer Ferne anbeten, die nur in seltenen und flüchtigen Augenblicken überschritten werden darf, während die Ehegatten ihr sexuelles Leben ohne die höheren seelischen Ansprüche der Minne im Alltag miteinander teilen.
   Ähnlich wie im Minnedienst verhält es sich bei Dante, in dessen Seele die Geschlechtsliebe ihre höchste religiöse Verklärung, aber nicht ihre volle Realisierung erfuhr. Dante verherrlicht Beatrice als Führerin in die Regionen der himmlischen Seligkeit; die Frau aber, mit der er verheiratet ist, hat keinen Anteil an seinem geistigen Leben. Auch die Liebe Petrarcas zu Laura entstammt einer Erotik, die der Distanz bedurfte; auch ihr haftet etwas von dem Madonnenkults an, dessen Ausstrahlungen auf die Gestalt der Beatrice einen überirdischen Schimmer werfen. Die fromme Inbrunst, die sich an dem Bilde der allerheiligsten Jungfrau Maria berauscht und mit ihren Zügen die irdische Geliebte ausstattet, um sie durch die Kraft einer religiös entflammten Erotik über das irdische Maß hinauszuheben, verträgt sich nicht mit den Einflüssen der Wirklichkeit, denen die Ehe ausgesetzt ist. Jene Verknüpfung sexueller Antriebe mit seelisch-persönlichen, in der wir das Wesen der höheren Erotik erblicken, mußte erst einen weiteren Schritt in ihrer Entwicklung machen, ehe sie auch die trennende Schranke der Distanz überwinden konnte.(...)

Ideen der Liebe (S. 65)

Mit den hymnischen Worten, die der Apostel Paulus im 13. Kapitel seines ersten Korintherbriefes schrieb, beginnt eine neue Ära menschlicher Entwicklung. "Wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts." Die Gewalt dieser Worte tönt über Jahrtausende. Sie haben der abendländischen Geisteskultur ihren edelsten Besitz geschenkt, die Erhebung der Liebe auf den ersten Rang der seelischen Werte.
   Wir können uns kaum noch eine Vorstellung machen, wie groß diese Umwertung gegenüber dem antiken Denken war. In dem Werk, das ein Neupythagoräer am römischen Hofe zu Ehren des Apollonius von Tyana schrieb, um die Evangelien zu überbieten, werden unter den auszeichnenden Eigenschaften des vorbildlichen Menschen genannt: die Besonnenheit, die Gerechtigkeit, die Frömmigkeit, die Selbstbeherrschung und die Mannhaftigkeit. Von der Liebe ist nicht die Rede.
   Die Verehrung der Tugenden, deren Vereinigung in der Person des Apollonius erscheint, wuchs auf dem Boden des denkmäßigen Erkennens, während das Christentum zur Grundlage neuer Lebensordnung eine ihrem Wesen nach geheimnisvolle Eigenschaft des menschlichen Gemütes macht.
   Denn das Wesen der Liebe ist dunkel. Wir sehen im Grunde nur ihre Wirkungen. Und kaum mit irgendeinem andern Begriff gehen so viele Mißverständnisse einher, wie mit dem der Liebe, kaum ein anderes Wort wird so mißbräuchlich angewendet wie dieses höchste der Seele. Wenn die alte Weltanschauung verbot, den Namen Gottes eitel zu nennen, der Liebe gegenüber wäre es auch am Platz gewesen.(...)

Krise der Ehe (S. 105)

Der Zusammenbruch aller überlieferten Werte, dessen Schauplatz die Gegenwart ist, hat auch die Ehe mitgerissen. Bis zum Weltkrieg konnte man von einer Entwicklung des Eheideals im Geiste neuer Ethik sprechen - seither tritt nur Verfall, Verneinung der Ehe schlechtweg hervor. Das überwundene Alte und das unfertige Neue wirkt sich nirgends auf so ungünstige Weise aus wie in der modernen Ehe und den Anschauungen, die sie begleiten. Im gleichen Maße, als sie praktisch mißglückt, wird sie theoretisch zum Gegenstand der Untersuchung gemacht; denn ihre Ideologie stimmt mit ihrer Realität nicht mehr überein.
   Die wenigsten, die eine Ehe eingehen, wissen, ob sie damit mehr als eine Formalität auf sich nehmen, die der Staat dem einzelnen auferlegt. Daher gewinnt auch die Ansicht immer mehr Verbreitung, daß die Einmischung des Staates in die privaten Lebensbeziehungen abzuschaffen und die Ordnung dieser Verhältnisse dem einzelnen zu überlassen sei. Der Sinn der Ehe erschöpft sich nach dieser Auffassung in dem Liebesband, das zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes miteinander verknüpft; solange die Liebe dauert, solange dauert die Ehe. Und selbst der persönlich bestimmten Liebe erkennt man dort, wo die Umwandlung der Ehe als staatliche Einrichtung schon am weitesten fortgeschritten ist, in Sowjetrußland, keine nennenswerte Bedeutung mehr zu; sie wird unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Sozialität als eine Art "Egoismus zu zweien" und das ganze Sexualleben in allen seinen Erscheinungen als eine nebensächliche Angelegenheit eingeschätzt.
   Wenn man von der Ehe als einer grundlegenden sozialen Erscheinung sprechen will, wenn man sie ihrem Wesen und ihrer Idee nach begreiflich, ihre wahre Bedeutung sichtbar machen will, muß man sie historisch-genetisch betrachten, als ein Gewordenes und Werdendes. Denn angenommen, daß die abendländische Kultur noch nicht völligem Untergang zuneigt, wird sie ihre Lebensformen organisch weiterbilden. Und die Ehe als soziale Einrichtung, wie sie sich, soweit das Gedächtnis der Menschheit zurückreicht, bei allen dieser Kultur angehörigen Völkern findet, darf als Ausdruck für ein der menschlichen Natur tief innewohnendes Bedürfnis betrachtet werden.
  Zwar die Frage, ob die Ehe als einzige legale Form des Geschlechtsverhältnisses der menschlichen Natur jemals angepaßt war, kann durchaus nicht bejaht werden. Das Mißverhältnis zwischen der Gewalt des Geschlechtstriebes und der Ehe, insbesondere der monogamen Ehe, war immer so groß, daß sich die illegalen Formen des sexuellen Lebens, das Konkubinat und die Prostitution, durch sie nie beseitigen ließen.(...) Das Eheproblem steht in engem Zusammenhang mit dem Weltanschauungsproblem. 
Die hedonistische Lebensauffassung kann die Ehe nur als eine höchst unzweckmäßige Einrichtung betrachten; für sie gibt es kein einziges Motiv, das die Ehe wertvoller als eine illegitime, jederzeit lösbare Verbindung erscheinen ließe. (...)

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