aus
Fabeleien über göttliche und menschliche Dinge
Mein Traum (vollständiger Text)
Ich pflege selten zu träumen. Aber
wer kann sich ganz ohne Träume durch's Leben schlagen? Kaum nickt der
Kutscher ein wenig ein, so geht der Hippogryph durch; und das arme liebe
Ich, das ahnungslos wie ein reisender Engländer hinten im Wagen sitzt,
sieht sich plötzlich fortgerissen über Stock und Stein, aus allen
Geleisen heraus, in die Hölle oder in den Himmel, ohne daß es um seine
Wünsche und Absichten gefragt würde.
Auf diese Wiese kam ich jüngst in den Himmel. Vorher war
ich ganz vulgär menschlich in einem irdischen Garten herumgegangen und
hatte über irgend etwas nachgedacht. Ich glaube, über die
Unzulänglichkeit der Weltregierung, die unbefriedigenden Fortschritte
der Menschheit oder dergleichen müßige Dinge. Es mußte lange
schlechtes Wetter geherrscht haben, denn eine kleine Lücke in dem
bewölkten Firmament über mir, durch die der blaue Himmel hereinschien,
machte mir einen besonderen Eindruck. Und mit der überraschenden Logik
der Träumer dachte ich: Holla! Warum sollte man nicht einmal versuchen,
durch diese Lücke hineinzugelangen? Zuversichtlich entschlossen
schöpfte ich tief Atem, blies die Backen auf - und in der Tat, ich
begann wie ein Luftballon senkrecht in die Höhe zu steigen, höher und
immer höher. Ich fand das nicht im geringsten erstaunlich; ich wunderte
mich sogar flüchtig darüber, daß die Menschen nicht längst auf
dieses einfache Mittel, das langweilige Gesetz der Schwere zu
überwinden, fallen waren.
Oben an der Wolkendecke stieß ich mit dem Kopf unsanft an,
denn ich konnte die Öffnung nicht gleich finden. Ich versuchte es ein
zweites, drittes, viertes Mal. Glücklicherweise stammen meine Vorfahren
aus dem Lande ob der Enns; solche Schädel halten einen Puff aus.
Schließlich traf ich doch ins Schwarze; und ich schlüpfte durch einen
engen Schlot, der nach Geräuchertem roch wie ein ländlicher Kamin,
aufwärts.
Als ich glücklich draußen war, befand ich mich in einem
unermeßlich großen Treppenhause, in dem nach allen Seiten hin
krystallene Stufen und goldene Geländer in zahllosen Wendungen zwischen
wolkenfarbenen Marmorpfeilern emporführten.
Bei diesem Anblick dachte ich gleich an die biblische
Himmelsleiter; und da die Menschheit seit den Tagen der Patriarchen
wenigstens auf den Gebieten der Technik und des Komforts unleugbare
Fortschritte gemacht hat, schien es mir ganz angemessen, daß sich die
primitive Leiter des Erzvaters indessen in solche ein herrliches
Treppenwerk verwandelt habe. Von den auf- und abwandelnden Engeln
hingegen bemerkte ich nichts. Alles war leer und still; kein himmlischer
Portier fragte den Ankömmling, wohin er wolle; kein beflügelter Lakai
nahm ihm seine Visitkarte und seine Überkleider ab. Aber mit einiger
Anstrengung erspähte ich doch vereinzelte, geisterhafte Gestalten, die
sich in größerer oder geringerer Ferne von einander fortbewegten.
Schwach schimmerten sie durch die weltweiten Räume wie Sterne auf einem
nebeligen Winterhimmel. Nirgends gingen ihrer zwei zusammen; es schien
mir, daß jede für sich einen der unzähligen Treppenarme benützte,
die sich wohl erst weiter oben, in einer Höhe, in die mein Blick nicht
hinaufreichte, vereinigten.
So entschloß ich mich auf gut Glück, die Stufen, die mir
zunächst lagen, zu betreten. Wenn ich nur immer tapfer aufwärts
stiege, konnte ich ja, so dachte ich, das Ziel nicht verfehlen.
Viele hundert Jahre lang ging ich fort auf den breiten
schimmernden Stufen. Von ihnen schien das Licht auszuströmen, das diese
Räume mit reiner Klarheit erhellte und alle Schatten in Glanz
auflöste. Unersättlich weidete ich mich an der Pracht, die mich umgab.
Geschoß auf Geschoß erhob sich herrlich und herrlicher; in immer neuen
Perspektiven reihten sich Säulen, Bogen, Wölbungen übereinander; die
goldenen Geländer schlangen sich aufwärts ohne Ende - unter mir, neben
mir, über mir Stufen und Stufen bis in die blaue Ewigkeit.
Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick nach hinten, ob
nicht jemand nachkäme; aber es kam niemand nach. Auch hoffte ich im
Stillen, eine jener Gestalten einzuholen, die ich früher wahrgenommen
hatte; aber ich holte niemanden ein. Im Gegenteil: ich erblickte weit
und breit keine Spur mehr von ihnen; sie hatten sich in den ungeheuren
Entfernungen dieses glanzvollen Labyrinthes verloren, und ich war
mutterseelenallein auf meinem Wege.
Eine große Stille herrschte, eine völlige
Lautlosigkeit, wie sie auf Erden auch in den schweigsamsten Mondnächten
nicht besteht. Ich hörte nur meine eigenen Schritte mit einem knappen,
trockenen Ton auf die Stufen schlagen - tapp, tapp, tapp, eintönig
fort.
Allmählig begann das scharfe, kalte, klare Licht mich in
den Augen zu schmerzen; die empfindliche Kühle dieser marmornen Hallen
durchfröstelte mich bis ins Innerste.
Und in meinem Gemüt regte sich ein Zweifel, ob ich denn
auf dem rechten Wege sei. Vielleicht gelangte man nach dieser Richtung
hin gar nicht in die bewohnten Räume des Himmels? In die Appartements
des lieben Gottes, wo die neun Chöre der Engel musizieren und die
Muttergottes mit den Heiligen Cercle hält? Vielleicht führte dieser
Treppenarm nach jenen Teilen des Himmels, die, vorläufig unbenützt,
erst zum Aufenthalt für die Seelen kommender Jahrtausende bestimmt
sind? Und ich mußte dann zur Strafe dafür, daß ich den Mund
vollgenommen und mich mit einer voreiligen Umgehung der Naturgesetze in
den Himmel eingeschlichen hatte, all die lange Zeit hindurch einsam und
verlassen harren, bis jene späten Gäste ankämen? Bis die Überzüge
von den Möbeln entfernt, die Jalousien aufgezogen und die Flügeltüren
geöffnet werden, weit auf, daß der strahlende Glanz und die
unsterbliche Musik jener anderen Sphären hereinfluten können -?
Mit einem Male hatte sich die Umgebung ganz verändert.
Verschwunden waren die unabsehbaren Fernen mit ihren endlosen Reihen
leuchtender Stufen; undurchsichtige kalkige Mauern engten den
Gesichtskreis ein, die Wölbungen senkten sich niedriger herab, die
Stufen wurden schmal, steil, dunkel, und bald unterschied sich mein Weg
kaum mehr von der kahlen Treppe, die in eine von armen Handwerkern und
dürftigen Witwen bewohnte Mansarde hinaufführt.
Es befremdete mich, daß es im Himmel hergehen sollte
wie in irdischen Häusern, wo die Treppen desto schlechter werden, je
weiter man sich von der Beletage entfernt. Zugleich drückte mich das
Bewußtsein nieder, daß ich allem Anschein nach auf die Dachbodenstiege
des Himmels geraten war, und also wirklich den rechten Weg verfehlt
hatte. Denn man stellt seiner Intelligenz immer ein schlechtes Zeugnis
aus, wenn man einen Weg verfehlt.
Ich überlegte, ob ich nicht lieber umkehren sollte. Aber
der Gedanke an Umkehr erweckte in mir eine seltsame Traurigkeit, eine
schmerzliche Wehmut, so daß ich mich an die Mauer lehnte und,
überwältigt von unerklärlichen Gefühlen, den Tränen, diesem
Universalheilmittel der weiblichen Natur, freien Lauf ließ.
Da war mir's, als hörte ich durch die tiefe Stille
schwache, verlorene Töne dringen. Sie schienen aus der Höhe zu kommen;
je länger ich lauschte, desto deutlicher vernahm ich sie. Es war eine
alte, schlichte, einfältige Weise; sie erinnerte mich an eine Melodie,
die ich in meiner Kindheit gehört und längst vergessen hatte. Aber ein
wundersamer Trost ging von ihr aus; mit neuem Mute kletterte ich noch
eine erkleckliche Zahl von Stockwerken aufwärts, bis ich bei einem
hölzernen, leiterartigen Treppchen anlangte, das in einen engen Gang
mündete. Von dort her kamen die Töne.
Da stand ich nun vor einer armseligen, niedrigen
Dachbodentür, auf welcher ich mit Staunen die Inschrift: "Zum
Paradies" entzifferte. Ich hatte mir freilich unten, in den
wunderbaren Hallen des Treppenraumes, ein anderes Ziel vorgestellt -
aber gleichviel! Es war ein Ziel nach langer Wanderschaft; und wer so
lange kein Ziel gesehen hat, der weiß Ziele erst zu schätzen.
Ich klopfte an und trat ein.
Inmitten eines kleinen Stübchens stand ein alter Mann. Vor
sich auf einem Gestelle hatte er einen altmodischen Leierkasten stehen,
der mit einem primitiven Gemälde, die Erschaffung von Adam und Eva,
geziert war. Er orgelte mit friedlicher Gelassenheit, ohne sich durch
meinen Eintritt stören zu lassen. Sein Bart war eisgrau, sein Gesicht
voll Runzeln; aber aus seinen Augen strahlte eine wahrhaft himmlische
Verklärung, und ums eine Lippen lag ein Zug von gütiger Heiterkeit,
wie ich ihn noch bei keinem menschlichen Wesen wahrgenommen hatte. Er
lauschte mit so frommer Ergriffenheit der Musik, die er hervorbrachte,
daß die Würde seiner Persönlichkeit durch die einfältige
Beschäftigung, der er sich ergab, nicht beeinträchtigt wurde.
Auf meine Bitte, mich einen Augenblick niedersetzen zu
dürfen, nickte er mit seinem weißen Kopfe und spielte immer zu.
Wie einladend war dieses Stübchen! Am Fenster blühten
Geranienstöcke, und frischgewaschene Musselingardinen hingen davor. Ein
geschweifter Kasten mit blinkenden Messingbeschlägen stand an der
blendend weiß getünchten Wand; das Kanapee, auf dem ich saß, war mit
geblümten Kattun überzogen , und auf dem Tisch daneben lag die Bibel
aufgeschlagen. In der Ecke erhob sich ein gebuckelter, grüner
Kachelofen, von dem eine milde Wärme ausging; über der Eingangstür
hing ein Kruzifix mit einem Palmkätzchenzweig dahinter.
Mich plagte die Neugier, zu erfahren, wer denn der Alte
sei, der hier in dieser Mansarde des Himmels das Gnadenbrot genoß und
sich die Zeit mit einer Drehorgel vertrieb.
Um ein Gespräch einzuleiten, sagte ich: "Eine
freundliche Wohnung, aber ein wenig hoch gelegen!"
"Freilich wohl," versetzte er mit einer
sanften, schwachen, alten Männerstimme. "Es kommt auch selten
jemand da herauf, liebes Kind."
"Und wohnen Sie hier in diesem Trakte so ganz
allein?"
"Was soll man machen, wenn man alt wird? Dann
finden die Kinder, daß man ihnen den Platz wegnimmt. Der Mensch oder
ich - für uns beide ist in der Welt kein Raum, heißt es jetzt. So habe
ich mich hieher zurückgezogen."
Da ich diese Antwort nicht recht verstand, fragt eich
mit himmlischer Höflichkeit - denn warum sollte man im Himmel nicht
auch mit einem Leiermann höflich sein? -
"Dürfte ich vielleicht fragen, mit wem ich die
Ehre habe?"
Er lächelte geheimnisvoll. "Ich bin",
sagte er nicht ohne Schalkhaftigkeit in seinen wundervollen Augen,
"ich bin derjenige, den du dir vorstellst, mein Kind."
"Woher wissen Sie, wen ich mir unter Ihnen
vorstelle?"
Er vergaß im Anhören seiner kindlichen Musik zu
antworten. Und in dieser einsamen Verlassenheit schien er mir so uralt,
so hinfällig und so hilfsbedürftig; es kam mir vor, als schwanke er
vor Müdigkeit auf seinen gebrechlichen, alten Beinen. Er dauerte mich:
"Wollen sie sich nicht ein wenig zu mir auf's Kanapee setzen?"
fragte ich ihn. "Sie müssen ja schon müde sein vom vielen
Stehen?"
"Das wäre!" versetzte er mit seinem
rätselhaften Lächeln. "Ich darf nicht aufhören zu spielen."
"Warum denn nicht?"
"Weil sonst die Welt aus den Fugen ginge."
In seinen Augen blitzte es - von Göttlichkeit oder
von Wahnsinn.
Jetzt begann ich zu begreifen: statt in den Himmel,
wie ich dachte, war ich ins Fegefeuer geraten, wo die armen Seelen ihre
irdische Qual so lange mit sich schleppen, bis sie gänzlich gesäubert
sind.
Und mein Verdruß wuchs, als ein peinlicher Argwohn
in mir aufstieg, der Argwohn, daß ich vielleicht zur Strafe meiner
Sündenverurteilt sei, eine unbekannte Anzahl Jahrtausende den
eintönigen Leierkasten anzuhören und als Gesellschafter nur diesen
kindischen Greis zu haben. Ich erinnerte mich mit Unbehagen, daß ich
während meiner Erdentage wenig Vorliege für die Alten und Schwachen
gehabt hatte, namentlich, wenn sie immer dieselben Stücke leierten.
Und nun war ich in eine Zelle zusammengesperrt mit einem
solchen Leiermann! Ich warf einen bösen Blick auf meinen
Zellengenossen. Dabei sah ich, daß er mich aufmerksam und gespannt
beobachtete.
Um seines lieben, arglosen Gesichtes willen verschluckte
ich meinen Unmut und sagte leutselig: "Setzen sie sich nur nieder!
Wenn es sein muß, kann ja ich indessen das Spiel in Gang erhalten,
damit die Welt nicht aus den Fugen geht."
Da brach der Alte in ein großes Lachen aus. Es war
ein so herzliches, unwiderstehliches Lachen, voll ewiger Heiterkeit und
göttlichem Behagen, daß ich nicht ärgerlich werden konnte, sondern
gleichfalls zu lachen begann, obwohl ich nicht einsah, was denn so
Lächerliches an meinem Anerbieten war.
"Weißt du denn nicht", fragte er und
lachte noch immer, "daß dazu fünf Stücke erforderlich
sind?"
"Sie spielen doch die ganze Zeit nur ein- und
dasselbe Stück, so viel ich höre?"
Er lachte weiter. Und dann stellte er fünf Fragen an
mich.
"Hat du den festen Willen?"
"Hast du die Aufopferung?"
"Hast du das Wissen?"
"Bis du als Mensch geboren?"
"Bist du ein Mann geworden?"
"Nun bei Gott! Dazu werden doch die geistigen
Fähigkeiten des weiblichen Geschlechtes hinreichen?"
"Mein Kind, bisher ist die Mannheit eines der
unerläßlichen fünf Stücke gewesen, und ich habe strenge darauf
gehalten. Soll ich nun anfangen, Ausnahmen zu machen? Übrigens, warum
nicht? Ich bin nie ein Pedant gewesen. Also komm her, mein Kind."
Ich stand auf und trat zu ihm.
"Eines aber müssen Sie mir erlauben", sagte ich,
schon im Begriff, ihm die Kurbel aus der Hand zu nehmen. "Ich kann
Ihnen nicht verhehlen, dieses Stück, das Sie schon so lange spielen -
es ist ja ein ganz nettes, altes Lied - aber nehmen Sie mir's nicht
übel, immer dasselbe, das halte ich nicht aus. Deshalb möchte ich ein
neues Register aufziehen, wenn ich beginne."
"Das wird sich finden", versetzte er, indem
er meine Hand ergriff.
In diesem Augenblick verwandelte sich das Spiel des
Leierkastens in ein Brausen wie von tausend Orgeln; das Stübchen fiel
auseinander wie eine zerschnittene Pappschachtel, und eine ungeheure
Weite, von blendender Helligkeit erleuchtet, dehnte sich ins Grenzenlose
aus. Millionen farbiger Strahlen flossen in kreisenden Wirbeln vor
meinen Augen ineinander und schienen sich in unendlicher Ferne in einem
strahlenden weißen Punkte zu vereinen. Und dieses weiße Licht traf
meinen Blick mit unerträglichem Glanz, und das Brausen schwoll immer
gewaltiger an, als dröhnten schon die Donner des jüngsten Gerichtes an
mein Ohr...
Überwältigt schlug ich die Augen auf. Da schien mir
die Morgensonne hell ins Gesicht, und unten im Hofe wurde mit aller
Macht ein Teppich geklopft.
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