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TEXTPROBE VON ROSA MAYREDER


aus: Der letzte Gott

....Fortschreiten von unvollkommenen Formen zu vollkommeneren ist der Weg der Natur oder, wenn man einwendet, daß "vollkommener" eine menschliche Bewertung sei, von einfachen zu immer komplizierteren. Warum aber sollte die anthropomorphistische Betrachtung gegenüber der Natur nicht erlaubt sein? Versteht es sich nicht von selbst, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist? Die Natur hat ihn als Richter in die Welt gesetzt, in dem sie ihm die Wertungsanlage einpflanzte. Vom Menschen aus gesehen, sind die aus älteren Erdperioden übriggebliebenen Tiere gleich ihren ausgestorbenen Vorgängern ungeschlachte Versuche planetaren Formtriebes, der noch die wuchernde Materie nicht meistern konnte. Und stimmt diese menschliche Bewertung nicht mit jener der Natur überein, die von niedrigeren nach immer höheren Lebenserscheinungen trachtet? Die Pflanze an sich steht organisch höher als der Stein, weil sie auf Reize zu reagieren vermag, das Tier höher als die Pflanze, weil es eigene Impulse der Bewegung besitzt, das warmblütige Tier höher als das kaltblütige, weil es unabhängig von der Temperatur der Umgebung aus sich selbst die nötige Wärme erzeugt, der Mensch höher als das Tier, weil er über das elementare Geschehen hinaus neue Lebensbedingungen zu schaffen vermag. Das ganze Reich der Natur ist eine Hierarchie aufsteigender Lebensformen; verfolgt man die fortschreitende Komplizierung des organischen Apparates in der Richtung eines Zieles, so gelangt man zum menschlichen Gehirn, aus dem die höchste Bewußtseinsleistung hervorgeht.

VII
Es scheint, als vollziehe sich Entwicklung am sichtbarsten an der spätesten Schöpfung der Natur, dem menschlichen Gehirn. Innerhalb weniger Jahrtausende hat sich die Art des Denkens sowie das Erkennen selbst, besonders aber das Tempo des Erkennens, der Auffassung, und auch die Empfänglichkeit für Eindrücke merkbar verändert.

Zu Beginn der geschichtlichen Zeit, in den ersten, durch Schriftzeichen vermittelten Überlieferungen ist denkerisches und künstlerisches Gestalten noch nicht voneinander geschieden; religiöse Empfindungen begleiten das Denken, und alles, was damit zusammenhängt, trägt den Nimbus der Heiligkeit. Als Geheimlehre werden die höchsten Erkenntnisse gehütet, die nur den Eingeweihten zugänglich sind und auch ihnen mehr in Gestalt mythischer Symbolik als in Gestalt begrifflichen Ausdrucks.

Über die mythenbildende Phantasie hinaus, wächst erst allmählich im Intellekt die Fähigkeit zu begrifflicher Darstellung der Erkenntnisse heran. Welche Umschweife, was für langatmige Wiederholungen erforderte die Mitteilung von Gedanken in den ältesten uns erhaltenen Dokumenten dieses Bemühens! Noch in den Gesprächen Buddhas oder in den Ausführungen des Buches Hiob, zeitlich nicht sehr weit von uns entfernten geistigen Leistungen, herrscht eine heute kaum den denkfremden Volksschichten eigene Umständlichkeit. Sogar die sokratische Methode der Beweisführung, deren sich ein Denker höchsten Ranges wie Plato bediente, könnten auf Schwierigkeiten der verstandesmäßigen Mitteilung schließen lassen. Sicherlich aber würde das Tempo nach die "Mäeutik", die "Hebammenkunst" des Sokrates, dem modernen Denken nicht mehr entsprechen....

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